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Anfang März wurde in Polen das umstrittene Holocaust-Gesetz eingeführt. Dies hat auch Auswirkungen auf die Wiler Partnergemeinde Dobrzen Wielki. Daniel Schönenberger, SP-Parteipräsident Wil, war vor Ort und erzählt.
Wil/Dobrzen Wielki Die polnische Gemeinde Dobrzen Wielki ist seit 1991 Partnergemeinde von Wil. Zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer entschied der Wiler Stadtrat, eine Gemeinde in vergleichbarer Grösse aus Osteuropa beim Wiederaufbau zu unterstützen. Und noch heute wird der Kontakt zur Partnergemeinde gepflegt. Mit dem derzeitigen Rückbau der Demokratie in Polen sei dies wichtiger denn je, so Peter Balzli, Osteuropakorrespondent des SRF (siehe Interview). |
SP-Parteipräsident Daniel Schönenberger war dieses Jahr zum Sprachaufenthalt vor Ort. In seiner Gastkolumne erzählt er von seinem siebten Besuch in Dobrzen Wielki:
«Felix, mein Sohn, und ich haben beschlossen dieses Jahr keine Velotour zu unternehmen, sondern einen Polnischkurs zu besuchen. Der Leiter des Kulturhauses in Dobrzen hat eine Lehrerin engagiert, die uns jeden Morgen zu Höchstleistungen motiviert und bei unseren Freunden sind wir als Gäste willkommen.
Hungerstreik und Machtlosigkeit
Wie schon oft signalisieren die riesigen Kühltürme des Kohlekraftwerks das Ziel einer 12-stündigen Reise nach Dobrzen. Doch diesmal ist unser Zielort nicht mehr Dobrzen Wielki. Denn Teile unserer Partnergemeinde sind gegen ihren Willen zu Opole geschlagen worden. Nichts konnte den aktuellen Machtapparat daran hindern, dass die Kantonshauptstadt die finanzkräftigen Teile von Dobrzen Wielki schluckt. In der Gastfamilie ist die Herzlichkeit wie immer gross. Wir verständigen uns in Polnisch, Deutsch und Englisch. Irgendwann kommen die Gespräche auf den jahrelangen erfolglosen Widerstand gegen die Abkurung. Von Strassenaktionen und Protesten bis nach Warschau, einem Hungerstreik und dem aktuellen Gefühl der Machtlosigkeit wird erzählt. Später, bei Besuchen, hören wir, dass auch in der bisher durch die Gemeinde geförderten Schule Einsparungen unumgänglich wurden. Einige Leute haben ihre Stellen verloren.
Holocaust wird nicht unterrichtet
Alles in Dobrzen Wielki ist mir irgendwie bekannt. Aber die Unbeschwertheit, die Aufbruchstimmung und der Optimismus, den ich über Jahre erlebt habe, ist dieses Mal einer fast schon ängstlichen Stimmung gewichen. Die Lehrerin ist besorgt und möchte in der Schule nicht mehr über den zweiten Weltkrieg berichten. Das neue Holocaust-Gesetz macht bisher erwünschte Lerninhalte zu kriminellen Handlungen. Die Treuhänderin ist mit Arbeit überlastet, da Gesetzesänderungen sie verpflichtet jeden Beleg nach Warschau zu senden. Einer anderen Person macht Angst, dass die Regierung eine paramilitärische Truppe aufbauen möchte, und lässt deren Stimme beim Erzählen leiser werden. Wie konnte die Stimmung in einem demokratischen Land ohne wirtschaftliche Not so schnell kippen? Wachsamkeit ist scheinbar immer und überall nötig. Aber auch bei diesem Aufenthalt bin ich fasziniert von der Herzlichkeit und der Lebensfreude der Menschen, deren Bereitschaft, auch schwierigste Probleme anzupacken, den riesigen Wäldern und der Weite des Landes. Menschen und Landschaft bleiben, Regierungen kommen und gehen.
«Solche Partnerschaften sind wichtiger denn je»Anfang März wurde in Polen das Holocaust-Gesetz eingeführt. Worum handelt es sich dabei? Es ist ein Gesetz, mit dem laut der polnischen Regierung der gute Ruf Polens geschützt werden soll. Es drohen bis zu drei Jahren Haft, wenn Polen «faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen» zugeschrieben wird, «die durch das Dritte Deutsche Reich begangen wurden». Strafbar wird etwa die Verwendung des Begriffs «polnische Konzentrationslager». Das Gesetz wurde vielfach kritisiert. Der Vorwurf: Polen versuche unliebsame Aspekte der eigenen Geschichte auszublenden und verunmögliche deren Aufarbeitung. Sind weitere regressive Entwicklungen in Polen zu beobachten? Ja. Die polnische Regierung hat vor diesem Gesetz schon schrittweise die Demokratie zurückgebaut. Der folgenschwerste Schritt bisher war die Justizreform. Diese erlaubt es der rechtsnationalen Regierungspartei PiS, unliebsame (weil unabhängige) Richter gegen eigene Kandidaten auszutauschen. Ausserdem wurde eine Disziplinarkammer für Richter eingeführt. Diese kann dazu missbraucht werden, um Richter einzuschüchtern. Teile der Wiler Partnergemeinde Dobrzen Wielki wurden der Hauptstadt Opole zugeschlagen. Trotz Protesten. Ist dieses Vorgehen bezeichnend für das heutige Polen? Ich glaube nicht, dass man sagen kann, so ein Vorgehen sei «bezeichnend» für die derzeitige Regierung in Polen. Auch die Regierung davor war kein demokratischer Musterschüler. Aber aus Schweizer Sicht ist das Vorgehen natürlich völlig unverständlich. Der Gemeinde wird ein Drittel der Bewohner und zwei Drittel der Steuereinnahmen entzogen, obwohl sie sich vorher klar gegen diesen Schritt ausgesprochen hat. Wie beurteilen sie als Journalist Partnerschaften wie jene von Wil und Dobrzen Wielki? Solche Partnerschaften sind wichtiger denn je. Gerade jetzt, wo die Regierung die Demokratie langsam abbaut, ist es wichtig, dass der Dialog zwischen den Polen und den Bürgern und Politikern in Westeuropa weitergeht. Polen – und ganz Osteuropa – darf sich auf keinen Fall von Westeuropa entfremden. Und das können wir am besten verhindern, indem wir den Dialog pflegen, zum Beispiel mit Städtepartnerschaften. |